BEwegte Zeiten

Textbeitrag zu einem Konzert von Ulrich Tukur & den Rhythmus Boys

Auftraggeber: texthouse | Premium Event GmbH

In ihrem aktuellen Programm »Let’s Misbehave« widmen sich Ulrich Tukur und seine Rhythmus Boys auf ihre bewährt augenzwinkernde, charmante Art vor allem den berühmten amerikanischen Jazz- und Swing-Standards der 1920er und 1930er Jahre: An diesem Abend erwartet Sie ein bunter Streifzug durch die Unterhaltungsmusik aus den Revues, Tanzveranstaltungen, den Musicals und Filmen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, getragen von den mitreißenden Rhythmen des angesagten Modetanzes der Roaring Twenties, Charleston, und des Swing, dessen Siegeszug um 1930 begann.

 

            Es war eine wilde, aufgeregte, unsichere Zeit: Die Erinnerung an die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, der eine ganze Generation dahingerafft hatte, war noch kaum verblasst.  Umso mehr sehnten sich die Menschen wieder nach Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Die Tanzhallen, Musiktheater und Kinos waren voll – man war gierig auf das Leben und gerade süchtig nach Unterhaltung. Das Nachtleben in den Metropolen wie London, Berlin, Paris und New York boomte, Musik, Kunst und Kultur erlebte eine neue hektische Zeit der Blüte. Und man entdeckte neue Freiheiten: Die Mode wurde gewagter, die Röcke kürzer, und eine Zeit größerer sexueller Freizügigkeit brach an. In den Hollywood-Filmen vor der Durchsetzung der Zensur nach den Regeln des berühmt-berüchtigten »Hays Code« Mitte der 1930er Jahre ging es äußerst freizügig und frivol zu. Moralvorstellungen und Rollenverhalten wurden hinterfragt, Filmikonen wie Barbara Stanwyck, Clark Gable, oder Jean Harlow agierten in Filmen, in denen es um Sex, Erotik, Gewalt und Drogen ging und sogar deutliche Anspielungen auf Homo- und Bisexualität gewagt wurden – in der prüden, »sauberen« Hollywood-Welt der 1950er und 1960er Jahre war das geradezu undenkbar.

 

Doch man musste nicht ins Kino gehen, um das Prickeln erotischer Anspielungen zu genießen, auch in den Musikrevuen und Musicals kam man auf seine Kosten. Ein Großmeister in der Kunst des süffisanten Wortspiels war Cole Porter, der seine Songs selbst betextete. Sein Hit »Let’s Misbehave« (1927) entstand noch vor Porters Aufstieg zum Starkomponist des Broadway und wurde wahrscheinlich erstmals im Rahmen einer Musikrevue im legendären Restaurant und Nachtklub Café des Ambassadeurs in Paris gegeben, das schon die berühmten Maler Henri Toulouse-Lautrec und Edgar Degas gern besucht hatten. Während »Let’s Misbehave« nur eine unverbrämte Einladung zu einer Liebesnacht ist, geht es bei Porters »Miss Otis Regrets« (1934) schon um einiges härter zu: Miss Otis ist eine Dame der besseren Gesellschaft, die nicht lange fackelt, als ihr Liebhaber sie betrügt: Kurzerhand erschießt sie ihn, woraufhin sie selbst umgehend vom Mob gelyncht wird. Köstlich ironisch wird die Geschichte aber erst durch die formvollendete Entschuldigung ihres (britischen?) Butlers, Miss Otis sei durch diese unglücklichen Umstände leider verhindert, ihre Lunchverabredung wahrzunehmen – eine Handlung nach Machart eines Al Capone, mit der Noblesse eines Oscar Wilde betrachtet.

 

Der Crash der New Yorker Börse im Oktober 1929 und der Beginn der Weltwirtschaftskrise markierte das Ende der geradezu rauschhaft vergnügungssüchtigen Goldenen Zwanziger. Weltweit gingen die Aktienkurse in den Keller, durch den Zusammenbruch zahlreicher amerikanischer Banken kam es zu Masseninsolvenzen, die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe und die Inflation galoppierte. Doch die Party ging bald fast unvermindert weiter: Zwar ging die Zahl der Musical-Produktionen am Broadway in den ersten Jahren nach Einsetzen der Krise um etwa 50% des bisherigen Angebots zurück, doch wer irgend konnte, kaufte sich mit einem Kino-Ticket oder dem Eintritt zu einem Tanzvergnügen ein kleines Stück vom Glück. Und dank des Radios kam die mitreißende, lebenssprühende Musik der Zeit auch zu all denen, die sich den Luxus eines teuren Grammophons und kostbarer Schellackplatten nicht leisten konnten.  Die Traumfabrik Hollywood stellte sich um: Mit der Erfindung des Tonfilms 1927 war die technische Grundlage für die grandiosen Revue- und Tanzfilme der 1930er Jahre geschaffen, die die Melodien des Broadway einem breiteren Publikum zugänglich machten.  Irving Berlins »Puttin’ on the Ritz«, George Gershwins »Shall we dance?« (beide 1927),  Con Conrads »The Continental« (1934) und Cole Porters »Begin the Beguine« (1935) wurden zu Paradestücken dieses Genres. Viele von uns kennen diese Melodien vor allem durch die grandiosen Tanzfilm-Klassiker von Fred Astaire und seinen Partnerinnen, allen voran der berühmten Ginger Rogers aus den 1930er Jahren.

 

Mit ihren bis ins Kleinste ausgefeilten und ausgeklügelten Step-Choreographien zu den Klassikern des Swing bestachen Astaire und Rogers durch ihre absolute Perfektion – eine perfekte Traumwelt, in der kein Schritt danebenging. Auf den Tanzböden der Zeit ging es natürlich weniger perfekt zu, dafür aber nicht weniger lebendig: Charleston und Swing war (und ist) Tanzmusik und wer nicht gerade zwei linke Füße besaß, der bewegte sich auch dazu. In den ohnehin üppig dimensionierten Tanzsälen im Amerika der 1940er Jahre wurde es sogar derart eng, dass man neben dem Lindy Hop, den man dort üblicherweise in dieser Zeit auf Swingnummern tanzte, auch eine an der amerikanischen Westküste neu erfundene, weniger raumgreifende Variante einsetzte, den Balboa, um der Raumnot Herr zu werden. Und wer tatsächlich nicht tanzen konnte oder wollte, erfreute sich an den »Bigband Battles«, in denen die Bands von Count Basie, Chick Webb und anderen gegeneinander antraten. 

 

Es waren wahrhaft bewegte Zeiten, deren »Soundtrack« wir vor allem durch das große Swing-Revival der letzten Jahre frisch im Ohr haben. Doch Tukur und seine »Tanzkapelle«, wie er selbst gelegentlich die Rhythmus Boys bezeichnet, behandeln diese Klassiker der amerikanischen Unterhaltungsmusik in ihren Arrangements mit angenehmer Respektlosigkeit. Und sie würzen diese Mischung mit einer kräftigen Prise britischen Humors: Mit dem Song »Why Don’t Women Like Me« (1933) des Sängers, Komikers und Entertainers George Formby (1904–1961)  kommt sogar die britische Music-Hall-Tradition zu ihrem Recht. Der hierzulande fast unbekannte Formby war in den 1930er Jahren einer der beliebtesten und bestbezahlten Entertainer Großbritanniens. Allerdings ist ein größerer Gegensatz zu den amerikanischen Hochglanz-Crooners wie Perry Como, Bing Crosby und »Ol’ Blues Eyes« Frank Sinatra kaum vorstellbar. Formbys Markenzeichen waren Komödien und Revuefilme, in denen er meist einen schüchternen Einfaltspinsel gab, der die Damen seines Herzens mit linkischem Charme zu umgarnen versucht. Seine »Geheimwaffe« bei den obligatorischen Musikeinlagen war die heute wieder so beliebte Ukulele, die Formby bereits Mitte der 1920er Jahre salonfähig machte. Zu seinen Lebzeiten konnte Formby beim Publikum jenseits des Atlantiks nicht landen, war sein typischer britischer Humor doch zu speziell für amerikanische Gemüter. Umso charmanter, dass Tukur und seine Rhythmus Boys ihn hier Seite an Seite mit Stücken aus dem Kernrepertoire des Great American Songbook platzieren...

 

Eva Zöllner

 

Bildnachweis

Wet Angel Place, Sam Hood, photographic collection, call no. PXE 789 (v.14), Mitchell Library, State Library of New South Wales